Wenn unser eigenes Kind das Licht der Welt erblickt, erleben wir ein Gefühl, das wir in dieser Größe bisher nicht kannten. Die Liebe zu dem kleinen Wesen, das bedingungslos auf unsere Hilfe angewiesen ist, erfüllt uns mit unendlicher Verbundenheit. Niemals könnten wir uns in diesem Moment vorstellen, dass irgendjemand unserem Kind etwas Schlimmes antun wird. Erst recht nicht, dass jemand die Hilflosigkeit des Kindes ausnutzen könnte, um es wohlmöglich unsittlich zu berühren oder es sexuell zu missbrauchen. Spätestens aber, als die Polizei vor rund zwei Jahren die wohl größte Ermittlung wegen sexueller Gewalt gegen Kinder in der Geschichte der Bundesrepublik einleitete, kann niemand mehr die Augen davor schließen, dass Missbrauch von Schutzbefohlenen jeden Tag in allen Schichten unserer Gesellschaft stattfindet. Die Ermittler in Bergisch Gladbach sprachen zeitweise von mehr als 30.000 Verdächtigen.
Der Krefelder Kriminalhauptkommissar Thomas Inger ist einer jener Menschen, die sich jeden Tag mit den Abgründen der menschlichen Psyche befassen müssen: Denn seit mehr als 20 Jahren arbeitet er als Polizist in der Aufklärung von Sexualstraftaten. Jetzt hat der 55-Jährige die Leitung der neuen EG Stylian der Polizei Krefeld übernommen und stellt eine Ermittlungsgruppe auf, die es in dieser Art in der Bundesrepublik nur selten gibt. Mit seinem insgesamt 13-köpfigen Team, bestehend aus Polizisten, Informatikern und Technikern, möchte der Kommissar durch umfassende Fallarbeit Sexualstraftäter, die sich an den Kleinsten der Gesellschaft vergehen, hinter Gitter bringen und damit so viele Kinder und Jugendliche wie möglich vor sexuellen Übergriffen beschützen. „Die Fälle sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen sind in den letzten Jahren explodiert“, erklärt der dreifache Familienvater. „Allein in diesem Jahr sind die Fallzahlen um 80 Prozent gestiegen. Über die Dunkelziffer sprechen wir an dieser Stelle lieber nicht.“ Schon im ersten Halbjahr sind 58 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch bei der Polizei Krefeld eingegangen – dazu zählen sowohl Fälle von physischem Missbrauch als auch Missbrauchsabbildungen und Cyberkriminalität. Zahlen, die berühren und verstören. Denn jede Akte erzählt häufig nicht nur von dem Schicksal eines Kindes, sondern befasst sich oft gleich mit mehreren Unschuldigen, die für den Rest ihres Lebens von den furchtbaren Übergriffserfahrungen geprägt sind. „Das, was da passiert, ist nicht normal“, erklärt Inger energisch. „Die Kinder sind nicht einwilligungsfähig. Jedes einzelne davon verdient, dass sich die Polizei seiner annimmt.“
Dabei gelangen die Ermittlungsfälle über unterschiedliche Wege auf die Tische der EG Stylian. Immer wieder kommen Eltern selbst mit ihren Kindern auf die Polizeiwache und geben Anzeige auf. Auch über den Streifendienst werden Fälle zur EG vermittelt. Gleichzeitig gibt es eine Schnittstelle in den USA, über die Daten aus den sozialen Netzwerken gesammelt und ausgewertet werden. Vom National Center for Missing & Exploited Children (NCMEC) werden die Daten zum Bundeskriminalamt geschickt, gelangen von dort zum zuständigen Landeskriminalamt, werden dort geprüft und zur Zentrale Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) nach Köln gesandt. Über das ZAC an die jeweiligen Staatsanwaltschaften und dann an die Ermittlungsstellen, eben auch nach Krefeld, weitergegeben. „In den USA sind die Gesetzgebungen schärfer als in Deutschland“, erklärt der Ermittlungsleiter. „Außerdem sitzen viele der Netzwerkbetreiber in den Staaten. Sie haben sich dazu verpflichtet, Vorfälle zu melden.“
Kommen die Datenträger zur EG Stylian, beginnt für die Beamten ein tiefgehender Prozess. Immer wieder müssen sie sich die verstörenden Filme und Bilder anschauen, auf jedes einzelne Detail achten, um vielleicht Täter oder Opfer zu identifizieren. Sie hören sich die Hintergrundgeräusche an, versuchen, in Nahaufnahmen hilfreiche Beweise zu finden und drücken über Stunden immer wieder auf Stop und Repeat. Können sie die Opfer ermitteln und leben diese in Krefeld oder dem Kreis Kleve, der ebenfalls zum Ermittlungsgebiet der Krefelder Beamten gehört, gehen sie in die Konversation. Der Umgang mit den Kindern ist behutsam und über Jahre erlernt. Viele der Ermittler haben besondere Seminare zur Gesprächstechnik mit kindlichen Missbrauchsopfern belegt. „Wenn ein Kind lange missbraucht wurde, kann es das nur schwer im Gespräch schildern“, erklärt Inger. „Die Kinder haben Schwierigkeiten, Zeiträume zu benennen oder Häufigkeiten festzustellen. Dabei müssen wir sie unterstützen.“
Für die Beamten ist das jedes Mal aufs Neue wieder ein anstrengender Prozess. Nur schwer kann sich der Durchschnittsbürger vorstellen, welche Erlebnisse ihnen hier offenbart werden und welche Schutzmechanismen die jungen Opfer über die Jahre aufgebaut haben. „Es ist schlimm, zu erleben, was Menschen Kindern antun können. Wir sind keine Maschinen, auch uns lassen diese Aufnahmen nicht unberührt“, schildert Inger. „Gerade für uns ist es aber umso wichtiger, Beruf und Privatleben voneinander zu trennen. Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Job unsere Persönlichkeit verändert.“ Über viele Jahre konnte der 55-Jährige das inzwischen trainieren. Bereits mit 16 Jahren entschied sich der Krefelder nach der mittleren Reife, die Polizeikarriere einzuschlagen. Bei einem Praktikum auf der Karrierestufe zum gehobenen Dienst kam er bereits in seinen Zwanzigern zum ersten Mal mit Sexualdelikten an Kindern und Jugendlichen in Berührung. „Ich habe damals schon gemerkt, dass diese Ermittlungen wirklich helfen können“, erinnert er sich. „Das hat mich gepackt. Ich wusste, dass das mein zukünftiger Bereich sein wird.“ Zehn Jahre arbeitete er anschließend in der Sachbearbeitung von Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und wurde anschließend Fortbilder im gleichen Bereich am Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP NRW). Im Jahr 2019 kehrte er in den aktiven Dienst der Polizei Krefeld zurück. Dass er im Juni dieses Jahres nun die Leitung der neuen Ermittlungsgruppe übernahm, so ist er sich sicher, war ein konsequenter Schritt. „Ich bin der richtigste Mann an der richtigsten Stelle“, erklärt er mit einem zurückgenommenen, sympathischen Lächeln.
Vor allem weiß Inger, was es braucht, um so ein besonderes Team zu leiten. In seiner eigenen Karriere traf der damals junge Polizist immer wieder auf Vorbilder und Leitfiguren, die ihm schon früh beibrachten, sein Leben in zwei Welten zu teilen. „Es ist eine herausfordernde Aufgabe, Emotion und Verstand voneinander zu trennen“, beschreibt er. „Aber gerade in unserem Bereich ist es so wichtig. Wenn wir zu emotional sind, nimmt das kognitive Fähigkeiten und wir kommen nicht zum bestmöglichen Ermittlungsziel.“ Wenn der 55-Jährige nach Hause geht, lässt er all die verstörenden Bilder am Schreibtisch und schließt sie in seinem Gedankenapparat sicher weg. „Inzwischen sind meine drei Töchter erwachsen, aber gerade als sie noch klein waren, wollte ich sie in den Arm nehmen können, ohne diese Dinge im Kopf zu haben“, beschreibt Inger. „Hätte ich auf einmal Schwierigkeiten gehabt, meine Kinder wie ein Vater zu berühren, wäre ich an dieser Stelle falsch in meinem Job gewesen.“ Das zu schaffen, ist harte Arbeit und braucht Selbstreflektion. Für Inger ist zum Beispiel das Feedback der eigenen Partnerin enorm wichtig. Regelmäßig spricht er mit seiner Frau darüber, ob ihr Wesensveränderungen am Polizisten auffallen. Auch Supervision gehört im Team dazu. Und dann gibt es noch die Kaffeemaschinen- oder Küchengespräche. „Schon ganz zu Beginn vermitteln wir den Kollegen, dass sie, bevor sie das Büro verlassen, noch einmal irgendetwas Angenehmeres machen sollen“, erklärt der 55-Jährige. „Videos zu schauen, darf zum Beispiel nicht das Letzte sein, das du hier an einem Tag tust. Besser ist es, mit einem Kollegen bei einem Kaffee noch eine Runde zu quatschen.“
Es hilft aber nicht nur, Vorbildern wie Inger zu folgen, auch eine feste innere Struktur und eine stabile Persönlichkeit sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche, gesunde Karriere.
Dass Inger diese selbst mitbringt, ist offensichtlich. Ruhig und gelassen erzählt er von seinem besonderen Job. Er zeigt Gefühl an den richtigen Stellen, verzieht manchmal ernst den Mund, besitzt eine positive Grundhaltung und vermittelt durch seinen intensiven, ruhenden Blick Stärke und Empathie. Seine Balance sorgt auch dafür, dass Inger gern zur Arbeit kommt und diese erfolgreich machen kann. „Ich biete den Kindern an, das loszulassen, was sie erlebt haben“, erklärt er. „Wenn wir unsere Ermittlungsakten an die Staatsanwaltschaft übergeben, ist das für mich ein guter Tag. Dann dürfen wir uns auch darüber freuen.“
Den Verhandlungsprozess selbst verfolgt der Kommissar dabei in der Regel nicht. Er vertraut der Justiz, es gehe ihm nicht um die Strafe, sondern eben darum, die Kinder zu schützen. „Auch das hat etwas mit gesunden Resilienzfaktoren zu tun“, sagt er schmunzelnd. „Ich kann durch meine Ermittlungen die Entscheidung der Justiz beeinflussen. Weiß ich, dass ich einen guten Job gemacht habe, habe ich alles dafür getan, dass der Täter am Ende gesetzmäßig bestraft wird.“ Für Inger spielt der Umgang mit den Tätern und der Blick auf diese dabei eine entscheidende Rolle. Während der Ermittlung gibt er jedem die Chance, sein Verhalten zu erklären. „Niemand von ihnen hat sich dazu entschieden, pädophil zu sein“, erklärt er energisch. „Ich darf sie dafür nicht verurteilen, aber ich verurteile sie für das, was sie tun. Dass sie ihre Macht gegenüber hilflosen Kindern ausnutzen.“
An seine Ermittlungsgruppe möchte Inger diese Werte nun weitergeben. Dabei helfen sollen ihm auch neue Räumlichkeiten, die die EG Stylian bald beziehen soll. Eine modernisierte, eigene Abteilung schafft dann zusätzliche Ausgleichsmöglichkeiten. Ein Ruheraum beispielsweise wird extra für das Team hergerichtet. „Wir sind eine Gruppe mit besonderen Bedürfnissen, die in anderer Form vor allem auf die emotionale Gesundheit achten muss“, beschreibt Inger. „Es ist wichtig, dass wir das untereinander, aber auch nach außen kommunizieren.“
Von der Bevölkerung wünscht sich der 55-Jährige, dass die Krefelder die Gründung der EG Stylian zum Anlass nehmen, um noch besser hinzuschauen und Verdächtiges zu melden. Die Polizei sei, so schildert Inger, Freund und Helfer – jeder Verdacht sei hier richtig und kein Anruf umsonst. Ganz nach dem Motto: „Besser einmal zu viel als einmal zu wenig.“ Auch die Politik zeigte zuletzt, dass sie mit einer neuen Gesetzgebung Kindesmissbrauch noch weiter in den Fokus rücken möchte. Seit dem 1. Juli gelten bundesweit eine deutliche Verschärfung des Strafrechts und effektivere Strafverfolgungsmöglichkeiten rund um die Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Wurden bisher beispielsweise Täter für sexuellen Missbrauch von Kindern nur mit Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und zehn Jahren bestraft, können sie jetzt für bis zu 15 Jahre hinter Gitter wandern. Auch der Besitz und die Besitzverschaffung von Missbrauchsabbildungen werden als Verbrechen hochgestuft und können mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden. „Das ist ein wichtiger Schritt, denn es bedeutet, dass jeder Besitz von anzüglichen Fotos von Minderjährigen strafrechtlich verfolgt werden darf“, erklärt Inger. „Geht ein Foto eines Mädchens beispielsweise per WhatsApp durch die Schule, machen sich alle, die diese Fotos bekommen, strafbar.“
Dass die zunehmende Digitalisierung und auch die Coronapandemie die Gefahr von sexualisierter Gewalt an Kindern im Netz verstärkt hat und wahrscheinlich die wachsenden digitalen Möglichkeiten auch zukünftig das Missbrauchsrisiko noch erhöhen werden, sei unbestritten. „Wir können als Ermittlungsgruppe dagegen ankämpfen und Täter hinter Gitter bringen“, erklärt der dreifache Familienvater. „Genauso wichtig ist aber, dass wir Kinder stark, selbstständig und handlungsfähig machen. Und da sind wir auf die Mithilfe jedes Einzelnen angewiesen.“ Inger spricht über Mütter und Väter, über Brüder und Schwestern, über Lehrer und Sozialpädagogen, über Trainer und Freizeitbegleiter, über Freunde und Bekannte. „Es ist ganz einfach“, schließt der Kommissar ab „Kindesmissbrauch geht uns alle an.“